Tote, Verwundete und Millionen Menschen auf der Flucht: Der Krieg in der Ukraine erschüttert die Welt. Wie es Betroffenen ergeht – auch in der Schweiz. Plötzlich sind sie Angehörige, Helfer, Expertinnen und Aktivisten. Der Krieg in der Heimat fordert die Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz bis zum Letzten.
Der Krieg kam für Halyna Chop Muff frühmorgens aus dem Gästezimmer. Ihre Mutter ist dort einquartiert, schon seit fünf Wochen. Sie kam, als die Lage in der Ukraine bedrohlich wurde, und besuchte die Enkelkinder, solange sie noch konnte. «Meine Mutter trat aus dem Zimmer und weinte. Sie sagte: ‹Halyna, wir sind im Krieg.›» Sie stockt, als sie die Worte der Mutter wiederholt. Als könnte sie es noch immer nicht fassen.
Halyna Chop Muff, Journalistin
Der Krieg hat den 46-Jährigen in die Öffentlichkeit katapultiert. Plötzlich gilt er als genauer Beobachter seiner Heimat, als scharfer Kritiker Putins. Tritt an Demos auf, spricht an Podien und im Fernsehen. «Kommen Sie gleich nach dem Mittag», sagt Volkov am Telefon, der Terminkalender ist voll. Zwei Stunden später spricht er vom Krieg – in einer Stube voller Spielsachen.
«Wir können Putin nur aufhalten, wenn der Westen vereint agiert», sagt er. Schon vor acht Jahren forderte er auf seinem Blog Sanktionen, den Boykott von Erdöl, die Sperrung privater Konten. Das verlangt er noch immer – jetzt als Sprachrohr der ukrainischen Diaspora. Auf jeder Plattform, die ihm geboten wird. «Ich sehe das als meine Pflicht. Die Arbeit hier ist effizienter als das, was ich an der Front tun könnte.» Leute mobilisieren, Unterstützung finden, Netzwerke knüpfen. Widerstand leisten – irgendwie.
Sasha Volkov, IT-Berater
«Die vergangenen Wochen waren die anstrengendsten in meinem Leben», sagt sie. Ihre Töchter sind zehn und anderthalb Jahre alt. Die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus. «Seit Krieg ist, schlafe ich wenig und trinke viel Kaffee.»
Zu Hause ist alles anders. Seit dem 17. Februar lebt Grynkos Mutter im Gästezimmer. Der Vater wollte nicht fliehen. Der Gedanke, dass ihre Mutter als Kriegsflüchtling bei ihr ist? «Unwirklich!»Auch der 15-jährige Ostap wohnt im Moment bei Grynko und ihrem Mann. Er ist der Sohn eines befreundeten Paars, sie arbeitet als Ärztin, er bei einer Zeitung. Beide wollen in der Ukraine bleiben, man brauche sie jetzt dort. «Ich bin extrem stolz auf alle, die unser Land verteidigen», sagt Grynko. Zugleich fühle sie sich hilflos.
Dass in Russland so viele der Staatspropaganda glauben, macht sie wütend. «Ich kann alle verstehen, die sich nicht öffentlich zu wehren wagen. Wenn man aber nicht bereit ist, Nachrichten zu hinterfragen, wird es schwierig. Die Wahrheit findet man relativ schnell, wenn man will.» Die Situation belaste auch das Verhältnis zu russischen Freunden in der Schweiz. Einige hätten bis jetzt nicht angerufen, nichts gefragt. «Leute, die wir kaum kennen, melden sich und bieten Hilfe an. Aber unsere russischen Freunde schweigen.»
Anastasiia Grynko, Kommunikationsforscherin, Spezialistin für Fake News.
Beobachter 6/2022